Aus der Geschichte der Weißergässer Kirmes

von Eugen Hoewer

In dem nachfolgenden Artikel, den ich auszugsweise aus einem Kirmesheft von 1959 entnommen habe, entwickelt Eugen Hoewer einige Gedanken zur Kirmes, die nach meiner Meinung auch heute noch Gültigkeit haben. Darüber hinaus schildert er zwei Anekdoten aus der langen Tradition, auf die sich die Kirmes in der Altstadt berufen kann.

Es vergeht wohl kein Wochenende mehr in unseren Mauern und Dörfern der Umgebung an dem nicht irgendwo in einem Stadtteil Musik ertönt und lebensbejahende Menschen sich harmonisch im Reigen drehen. Als willkommene Beigabe für große und kleine Kinder Schaubudenzauber jeglicher Art mit Karussell in hypermoderner Glanzaufmachung, die ihre Anlockungswünsche durch Mikrofon verkünden, und nicht zuletzt ein stattlicher Kirmesbaum aufgerichtet wird. Die Zeit des Patroziniums, der Kirchweihfeste, der Kirmes ist da unter sinnvollen Heimatgebräuchen mit allen ihren Symbolen und Attributzeichen von Fahnen, Bommes Fässchen, Schild u. a. m. Es gab eine Zeit, da waren diese Kirmesfeiern wahre Volksfeste. Da war jeder mit Herzenslust dabei, gleichgültig ob hoch oder niedrig, reich oder arm! – Es war halt eine Selbstverständlichkeit, dass die Mitglieder der Kirmesgesellschaft und ihre Freunde vom ersten bis zum letzten Tag keine Stunde der Festesfreude entgehen ließen. Wer glaubte, „zu erhaben“ zu sein, um mitzumachen, der hatte den tieferen Sinn der Kirmessen noch nicht verstanden. Sind es nicht Kirchweihfeste? Feiern also, die kirchlichen Ursprungs sind, Tage also, an denen man die Wiederkehr der Kirchweih als Mittelpunkt alles Geschehens der Nachbarschaft froh begehen will. Wie weit sind diese Art von bewussten Feiern entfernt von solchen, die ausschließlich nur ihrer selbst willen als bloßes Vergnügen erdacht und durchgeführt werden. Der Koblenzer hat sicher Heimatsinn und Traditionsbewusstsein, aber in keinem anderen Stadtteil unserer Heimatscholle waren diese Urbanitätsgefühle so ausgeprägt zur Geltung gekommen wie gerade in der historisch verpflichteten Weißergasse.

Die zwei Kirmesbäume

Im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts hatte der Kirmesbaum bis zum Jahre 1820 seinen gewohnten Standort in der oberen Weißergasse und zwar in der Nähe des Seilerwalles. Dieser mittelalterliche Stadtmauerwall lief als Verlängerung des Kleinschmidtsgässchens (ebenfalls Stadtmauer) längst der Bahnhofstraße (1858), heute Fischelstraße als ehemalige Verbindungsgasse von der Weißergasse zur Löhrstraße, deren Ausgang heute noch das Weinhaus Karl Metzinger (früher Hoewer) kennzeichnet. Die letzten Spuren des Seilerwalles wurden sichtbar beim Neubau von Kaisers Kaffeegeschäft auf der Ecke Löhrstraße, früher Blaues Eck von August Stempfle. Der Weißergässer Eingang dieser Gasse, Weißerhof genannt, lag gegenüber dem Ausgangstor des ehemaligen Dominikaner-Klostergartens. Das ganze Kirmesgeschehen spielte sich auf den weiten Klosterwiesen außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer ab, die sich früher auf gleicher Ebene bis zum langgestreckten Weißertor hinzogen. Im Jahre 1815 übernahm der preußische Staat die Liegenschaften und das ganze Wiesengelände des Klosteranwesens in seinen Besitz, um das Terrain zu militärischen Zwecken umzugestalten. Das eigentliche Kloster wurde Lazarett und die Kirche, das älteste gotische Gotteshaus am Mittelrhein, jahrhundertlang ein Bollwerk des Glaubens und Kulturzentrum im Kreise Koblenz bis nach Trier hin, wurde ein Zeughaus und Waffenarsenal. Das ganze Wiesenviertel mit Schuppen und Wagenremisen ausgestattet, diente auch dem Militärbeerdigungswesen im Dienste der Koblenzer Garnison. Alles Vorhandene längst der Stadtmauer wurde beseitigt und die Wallstraße geschaffen (Fischelstraße). Umständegemäß verbot nun die Fiskusbehörde kurzerhand die Aufstellung des Kirmesbaumes am alten Seilerwall. Sie gestattete jedoch ohne weiteres, dass die Aufstellung inmitten der Weißergasse am Kernsgäßchen, beim Hause 27 rechts, vorgenommen werden könnte. Mit dieser willkürlichen Abänderung waren die stark interessierten Bewohner der oberen Weißergasse keineswegs einverstanden. In stolzbewusster Opposition pochten sie auf ihre altverbrieften Bürgerrechte und verlangten in erhobener Beschwerde bei der Stadtverwaltung Einspruch gegen diese Maßnahme zu erheben. Als einzige Antwort erfolgte nun durch den Oberbürgermeister und Polizeidirektor Abundius Maehler, 1818-1847, ein lapidarer Bescheid. …“In dieser fatalen Angelegenheit sei leider nichts zu machen…“ Die Folge war nun, dass die verärgerten Weissergässer kurzum zwei Kirmesbäume aufstellten, einen an der neuen zugewiesenen Stelle am Kernsgäßchen und noch einen weiteren an der altgewohnten Stelle am Seilerwall. Dieser zweite Baum wurde aber nur zu bald militärisch beseitigt und zur Verhütung einer nochmaligen Aufstellung diese Stelle durch einen Wachposten gesichert. Lange Zeit später erst wurde hier das Unvermeidliche zum bleibenden Ereignis. Doch der Hauptjubel und Trubel im festlichen Geschehen spielte sich immer noch auf der oberen Hälfte der Weißergasse ab, weil dort sich manche Heckenwirtschaften zur Oktoberzeit aufmachten, um ihr eigenes Wachstum zu verzapfen. Es waren die Familien Speyer-Federspiel, Wiesen-Kern und Kieser. Außer diesen wirkte hier in hauptsächlicher Erscheinung die offizielle Weinwirtschaft der Mutter Eisenbarth, ein vortrefflich aufgezogenes Unternehmen mit beliebter Tanzfläche. Im Laufe der Jahre, besonders seit der Eröffnung des Rheinischen Bahnhofs 1858, der die Neugründung eines großen Central Hotels und des Hotels Bach und andere Unternehmen mehr mit sich brachte, und zumal der militärische Verkehr immer größeres Ausmaß annahm, konnte man feststellen, dass der Kirmesbaum am Kernsgässchen wirklich zu einem Hindernis wurde. So wurde im Jahre 1847 behördlicherseits angeordnet, dass der Kirmesbaum an dieser Stelle unweigerlich verschwinden müsse. Es erfolgte nunmehr einmütig die beste Auswahl des romantischen Standortes am vorlugenden Eckhause Hollermänns Häus’je auf dem Platz vor dem herrlich wirkenden Dominikaner Portal. Auch dieser verkehrstechnische Zwischenfall rief bei den Weißergässer Bürgern naturgemäß wieder manche unangenehmen Unstimmigkeiten hervor, die aber aus Liebe zur Heimatscholle bald überwunden waren, zumal der Baum auf dem Platze an der richtigen Stelle im Banne des Dominikaner Klosters angelangt war.

Dä Kermesbaam met der abbene Doll

Trotz guter finanziell-wirtschaftlicher Aspekte stand der Kirmesbaum 1856 ebenfalls unter keinem wohlwollenden Sterne. Wie jedes Jahr zogen die Sachverständigen der Kirmes-Prüfungskommission acht Tage vor dem Kirmestag zum Koblenzer Stadtwald, um gemeinsam mit dem heimischen Revierförster Emsbach den urkundlich verbrieften schmucken Festtagsbaum auszusuchen und durch den Förster zum Abschlag signieren zu lassen. Es -waren dies Schreiner- und Küfermeister W. Anton Mühlen, Zimmermeister Still, Dachdeckermeister Franz Spahl. Am nachfolgenden Samstag ganz früh vormittags, trat schon das Ausführungskommando mit einer Kirmesjungen-Kolonne, an der Spitze Meister Mühlen mit dem Wallenborns Hennerich, der Pferde, Wagen und Ausrüstungsmaterial stellte und dem Holzhauer Josef Waitz, im Volksmunde dä Nuppel genannt, ein schon jahrelang bewährter Baumfäller zum Stadtwald an. Der in der Lichtung gekennzeichnete stattliche Baum war gar bald fachmännisch durch Meister Waitz umgelegt, doch welch ein Graus und Enttäuschung. Beim Aufschlagen auf den Erdboden brach die „Doll“ ab, da der Baum durch Rotfäule innerlich längst zerstört war. Da war guter Rat in allerletzter Stunde sehr teuer. Es war halt ein Moment, wo der Affe ins Wasser rennt. Der Förster war nirgends aufzutreiben und ohne Doll in die Weißergasse einzufahren war einfach unmöglich. Aber kurz und bündig entschloss man sich aus Liebe zur Weißergasse einen anderen ebenso würdigen Artgenossen zur Strecke zu bringen. Gesagt – getan! – Man wollte gerade mit dem neugefällten Baume losfahren, da kam schon der Revierförster mit seinen Waldarbeitern im Sturmschritt herbeigeeilt. Er protestierte ganz entschieden gegen das Vorgehen und befahl den Baum sofort wieder abzuladen und mit dem zuerst gefällten Baum mit der „abbene Doll“ abzufahren. Aber ehe das geschehen konnte machte der schwer gekränkte Nuppel auf seine Art seinem gepressten Herzen durch zarte Zuflüsterungsworte Luft, ein Vorgehen, welches die Tatsache nicht aus der Welt schaffte, aber noch ein gerichtliches Nachspiel zeitigte in einem Strafmandat von zehn Talern, die ihm jedoch bei einer Sitzung im Weinhaus bei Mutter Eisenbarth durch huldvolle Übereignung verehrt wurden. Als die wackeren Kirmesmänner mit ihren recht geteilten strittigen Gefühlen von der Höhe des Kühkopfes herab in Koblenz am Fuße der Karthause met der abbene Doll bei der Wirtschaft zur Köl’sche Mutter landeten, hatte man sich gar bald wieder gefasst und in alter Treue kam der Mut wieder auf, eine getane Sache auch zu Ende zu führen. Nur zu schnell drang die Trauermäre von der abbene Doll in die Weißergasse ein, so dass die Kirmesstimmung bis auf den Nullpunkt hinabsank. Doch diese stieg sofort zur hellen Freude als die Jubelbotschaft eintraf, dass alles in Ordnung behoben sei, dass Zimmermeister Still den Schaden kunstgerecht zurecht gemacht und Schmiedemeister Säbel zur besseren Sicherung noch obendrein ein schmiedeeisernes Band um die Bruchstelle gelegt habe. Die Kirmesveranstaltung konnte also nun in üblichem Brauchtum sogar noch in erhöhter Stimmungsatmosphäre und sarkastisch ausgelassenem Humor begangen werden. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten. Der Unglücksbaum regte noch einmal die Gemüter auf. In der von Oktoberstürmen heimgesuchten Kirmeswoche von Mittwoch auf Donnerstag erhob sich gleich einer Böe ein schwerer Orkan, der den Baum hin und her zu fegen, zu rütteln und zu schütteln begann. Er legte sich um und fiel auf das Giebelhaus des Schneidermeisters Kellermann und schlug das Dachgebälk ein. Auf die gellenden Hilferufe kamen sofort die Nachtwächter Dommermuth und Rittgen gelaufen, die ihrerseits als Hilfskräfte die Sachverständigen alarmierten. Die Gebrüder Spahl, Still und Dachdeckermeister Heymann waren sofort zur Stelle, doch die stockfinstere Nacht verhinderte trotz Pechfackelbeleuchtung in der Sturmwucht des Windes jede durchgreifende Hilfeleistung. Man beschränkte sich beim Fehlen aller Gerätschaften nur auf die stabile Stützung des Baumstammes, und sorgte durch Überwachung, dass kein weiterer Schaden entstehen konnte. Erst am anderen Morgen wurde der ominöse Baum aufs neue in aller Ruhe hochgerichtet. Trotz aller schweren Arbeit blieb doch ein Schönheitsfehler am Baume haften, indem das besagte Eisenband um die abbene Doll sich gelockert hatte und die Baumkrone in einem stattlichen humoristisch anmutenden spitzen Winkel zum Stamme stand. Die ganze Weißergasse war schließlich heilfroh, als der unentwegte Meister Waitz mit wuchtigen Zimmermannsschlägen diesem verhexten, ärgerniserregenden Baumriesen unter den Augen der vielen neugierigen Zeugen aus der Altstadt am traditionellen Montag den Garaus machte. Der bekannte Lokaldichter Philipp Gretscher, der in manchen packenden Mundartliedern überliefert ist, hatte bei der nächstfolgenden Karnevalsperiode in einem humoristischen Schlagerlied die Sensationsmär: „…Dä Kermesbaam met der abbene Doll“ oder „die verhängnisvolle Mordgeschichte um Mitternacht“ gebracht.