Das Verschwinden einer Straße – der Seilerwall
In Koblenz gab es früher eine ganze Reihe von Straßen und Gassen, die heute nicht mehr existieren. Die Gründe für das Verschwinden sind dabei sehr unterschiedlich. Änderungen in der Struktur der Stadt machten über die Jahrhunderte häufig einen Neuzuschnitt einiger Straßen notwendig, neue Verkehrsachsen entstanden, die ehemals großen Besitztümer der Klöster und Adligen wurden aufgeteilt, es entstanden neue Straßen, alte verschwanden. Auch die Neu-Orientierung der Stadt nach der Aufgabe der preußischen Befestigung und natürlich die Katastrophe der Bombenangriffe ab 1944 brachten vielfältige Änderungen.
Das „Neue Adress-Buch der Stadt Coblenz pro 1853“, das im Stadtarchiv Koblenz öffentlich zugänglich ist, listet z.B. in der „Uebersicht sämmtlicher Straßen der Stadt Coblenz“ viele Namen auf, die es heute nicht mehr gibt. So im Bereich der Weißergasse Brunnengässchen und Kutschengässchen, an der Castorstraße ein Dreitaubengässchen, Hirzengässchen, Maisengässchen und Pottgeißersgässchen, die Görgenstraße hatte das Engelsgässchen, Schlangengässchen und Schnasengässchen. An das Barbaragässchen an der Löhrstraße erinnert heute nur noch ein Hinweisschild. Einige Straßen und Plätze wie Kaiser-Friedrich-Straße, Kaiser-Wilhelm-Ring, Kaiserin-Augusta-Ring und Goeben-Platz blieben mehr oder weniger original erhalten und wurden nur zu ihren heutigen Namen Südallee, Friedrich-Ebert-Ring, Moselring oder Görresplatz umbenannt.
Einige Straße erlangten eine gewisse Berühmtheit und die Erinnerung an sie hat sich erhalten. Ein Beispiel dafür ist die Wasserturmsmauer, die einst im Bereich des heutigen Zentralplatzes verlief. Durch die Tatsache, dass die Reste dieser Straße noch lange nach dem Krieg erhalten waren und durch die Art der Nutzung eine gewisse Berühmtheit (wobei berüchtigt das bessere Wort wäre) erlangte, hat sie sich im Gedächtnis vieler Koblenzer eingeprägt. Wenn von diesen mittelalterlichen Gässchen die Rede ist, schwingt oft Bedauern mit über den Verlust dieser uralten Zeugen einer lange vergangenen Epoche. Andere Straßen oder Gassen hingegen verschwanden ganz lautlos, und kaum ein Mensch kennt ihren Namen heute noch.
Ein Beispiel für diese Kategorie ist der Seilerwall. Um zu verdeutlichen, wo sich diese Gasse befand, bediene ich mich einer Beschreibung von Eugen Höwer, die er in seinem Artikel „Aus der Geschichte der Weißergasser Kirmes“ gab.
„Dieser mittelalterliche Stadtmauerwall lief als Verlängerung des Kleinschmidtsgässchens (ebenfalls Stadtmauer) längst der Bahnhofstraße (1858), heute Fischelstraße als ehemalige Verbindungsgasse von der Weißergasse zur Löhrstraße, deren Ausgang heute noch das Weinhaus Karl Metzinger (früher Hoewer) kennzeichnet. Die letzten Spuren des Seilerwalles wurden sichtbar beim Neubau von Kaisers Kaffeegeschäft auf der Ecke Löhrstraße, früher Blaues Eck von August Stempfle. Der Weißergässer Eingang dieser Gasse, Weißerhof genannt, lag gegenüber dem Ausgangstor des ehemaligen Dominikaner-Klostergartens.“
Die durchaus übliche Praxis, meist kleine Häuser unmittelbar an die Stadtbefestigung zu bauen, wobei oft die Stadtmauer die rückwärtige Wand des Hauses darstellte, entstand aus der Tatsache, dass einerseits möglichst viele Menschen den Schutz dieser Mauern genießen wollten, andererseits aber der Platz innerhalb der Befestigung doch arg begrenzt war. Dies führte einerseits zu sehr engen Gässchen mit relativ hohen Häusern wie in der Kastor- und Weißergasse, andererseits eben zu dieser Ansiedlung an den mittelalterlichen Wällen.
Wie bei allen Örtlichkeiten, an denen sich die Menschen unmittelbar an der Stadtmauer ansiedelten, handelte es sich meist um sehr einfache Menschen, die nicht sehr viel Wert auf Komfort oder räumliche Ausdehnung ihrer Behausung legen konnten. Der Name Seilerwall lässt vermuten, dass es ursprünglich dieser Berufszweig war, der die meisten Bewohner stellte. Es handelte sich dabei um eine durchaus erhebliche Anzahl an Gebäuden, die wie damals üblich jeweils mit einer Vielzahl von Bewohnern belegt waren. So führt das „Adreß-Handbuch der Stadt Coblenz“ von 1840 immerhin ca. 50 Häuser auf, die damals den Seilerwall bildeten. Damals war es allerdings noch üblich, die Gebäude der Stadt fortlaufend zu nummerieren. Erst im Adreß-Buch von 1853 sind die Häuser des Seilerwalls auch mit Hausnummern versehen. Nun sind es genau 50 Gebäude, deren Eigentümer oftmals Tagelöhner (der Begriff war damals noch nicht so negativ besetzt wie heute), Scherenschleifer oder Korbmacher waren.
An dieser Aufstellung änderte sich zunächst außer den Namen einzelner Eigentümer nichts, bis 1868 dann offensichtlich das erste Haus verschwunden ist. Der Schrumpfungsprozess beschleunigt sich in den nächsten Jahren, und bereits 1873 stehen nur noch 34 Gebäude dort an der Mauer. 1883 ist das Ganze schon sehr überschaubar geworden, und es stehen nur noch 21 Häuser, deren Einwohnerzahl zu diesem Zeitpunkt mit 167 angegeben wird. 1889/90 schließlich sind es nur noch die Häuser 1, 3, 5 und 7 mit den Eigentümern Naueiser, Peter Josef Witwe, Conrads Adolph Wwe. Erben und Hirsch (für 5 und 7). Diese können sich noch einige Jahre halten, bis 1897 nur noch die Nummern 5 und 7 übrig bleiben. Das erste Adreßbuch des neuen Jahrhunderts ist dann auch das erste, in dem der Seilerwall nicht mehr erwähnt wird. Eine vermutlich über Jahrhunderte mit Leben gefüllte Gasse ist verschwunden, und auch die Erinnerung an sie verblasst im Laufe der Zeit. Heute ist der Seilerwall für die weitaus meisten Koblenzer kein Begriff mehr.
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