Von Dr. Hans Bellinghausen

Dieser Artikel erschien im zweiten Band der hervorragenden Sammlung „Alt-Koblenz“ von Dr. Bellinghausen 1932. Er beleuchtet einige Bräuche, die in ganz Deutschland Fuß gefasst haben, zeigt aber auch Koblenzer Besonderheiten auf. Gegenüber dieser Schilderung von 1932 sind schon wieder etliche Bräuche und Symbole verschwunden, ich denke da nur an den Beelzebub, der in meiner Kindheit noch Angst und Schrecken verbreitete, den es heute aber nicht mehr gibt. Dafür macht sich die amerikanische Variante des Weihnachtsfestes mit dem jovialen „Santa Claus“ in Deutschland als Weihnachtsmann immer mehr breit und verdrängt das Christkind vielfach von seinem angestammten Platz. Dies zeigt, dass bei den Bräuchen immer noch Bewegung herrscht, und bei vielen Dingen ist man sich der Wurzeln gar nicht mehr bewusst. Dr. Bellinghausen hat sich wie bei vielen anderen Themen auch bei der Suche nach diesen Wurzeln verdient gemacht.

„Die Bräuche, die sich an die verschiedenen Zeiten und Abschnitte des Jahres heften, werden zum größten Teile bestimmt durch den Wandel der Erscheinungen in der Natur und das von ihnen beeinflusste wirtschaftliche Leben. Seit dem Siege des Christentums sind viele der alten Vorstellungen und Bräuche irgendeine Verbindung mit den christlichen Festen und Heiligentagen eingegangen, eine große Anzahl von ihnen hat die Kirche geschickt und oft wirkungsvoll ihrem eigenen Kulte einzuverleiben verstanden. Das meiste freilich läuft nebenher oder geht seine eigenen Wege.“
Diese Worte Paul Sartoris in der von John Meier herausgegebenen „Deutschen Volkskunde“ treffen ganz besonders auf das deutsche Weihnachts- und Neujahrsfest zu.

Ebenso wie das Fest der sommerlichen Sonnenwende seit den ältesten Zeiten und bei allen Völkern mit allerlei Zeremonien begangen wurde, von denen sich das Sonnenwendfeuer am 21. Juni, das von der christlichen Weltanschauung als Johannisfeuer am 24. Juni übernommen worden ist, in vielen Gegenden bis auf den heutigen Tag erhalten hat, so ist auch der Zeitpunkt der winterlichen Sonnenwende von jeher mit den verschiedensten symbolischen Handlungen ausgestattet worden.

Aus alter heidnisch-germanischer Zeit stammen, wie die volkskundliche Forschung im Verein mit der vergleichenden Religionswissenschaft nachgewiesen hat, die ältesten Bestandteile der Nikolaus-Umzüge und die in den bayerisch-österreichischen Alpenländern üblichen Perchtenläufe, die in der Zeit vom 1. Adventssonntag bis zum Dreikönigstag stattfinden. Sie haben ihren Ursprung in den Umzügen heidnischer Vegetationsdämonen und sind als Fruchtbarkeitsbräuche anzusehen, die seit uralten Zeiten den Zweck hatten, Fruchtbarkeit und Segen herbeizurufen und böse Geister zu vertreiben. Bei diesen Umzügen waren Verkleidungen und das Tragen von Masken üblich, die ihren Trägern nach damaliger Anschauung dämonische Kräfte verliehen. Symbolische und phantastische Tänze gehörten ebenfalls dazu. In anderen Gegenden Süddeutschlands, in der Schweiz und im Elsass nennt man die in dieser Zeit umherziehende Gestalten „Klöpfler“ oder „Anglöckler“; sie klopfen an die Häuser oder läuten mit Glocken und Schellen, wobei sie durch das Auswerfen Fruchtkörnern und Erbsen Fruchtbarkeitszauber und das Aufwecken des Vegetationsgeistes herbeiführen. Das Christentum hat die alten heidnischen Gebräuche durch die Einsetzung des Nikolausfestes abgelöst, aber auch heute noch ist dieser heilige Mann von schreckhaften Gestalten, wie Beelzebub und Hans Muff begleitet.

Nach uralter heidnisch-germanischer Sitte gelten die Tage vor und nach der winterlichen Sonnenwende als heilige Ruhetage, als „Lostage“, denn in dieser Zeit zogen die Seelen der Abgestorbenen unter Wotans Führung durch die Luft. Auch beobachtete man an diesen Tagen die Witterung, die maßgebend war für das Wetter in den einzelnen Monaten des kommenden Jahres. Ferner waren diese Tage zur Befragung des Orakels ganz besonders günstig. Das in Skandinavien und auch in Norddeutschland gebräuchliche „Julzeichen“ und der „Julklapp“ hängen mit den Gebräuchen der Lostage zusammen. Das Christentum versuchte mit all diesen heidnischen Anschauungen aufzuräumen. Dies ging natürlich nicht von heute auf morgen. Noch im 14. Jahrhundert z.B. verehrte man im Mosellande die Göttin Diana, so dass sich eine Trierer Provinzialsynode im Jahre 1310 zu einem energischen offiziellen Verbot dieses heidnischen Glaubensrestes veranlasst sah.

Die Römer begannen das neue Jahr ursprünglich am 1. März, später, jedoch noch in vorchristlicher Zeit, am 1. Januar. Im Dezember aber wurde von ihnen das freudige Fest der Saturnalien gefeiert. Der Gedanke liegt nahe, dass das Nikolausfest auch von diesen Saturnalien beeinflusst ist. Die christliche Kirche begann das neue Jahr ursprünglich am 6. Januar, am Tage der Taufe und der „Erscheinung des Herrn“. Erst im Jahre 334 wurde erstmalig der 25. Dezember als das Geburtsfest Christi gefeiert. Und noch viel später verlegte man den Beginn des Kirchenjahres auf den ersten Adventssonntag. Sicherlich hatte die Kirche ihre guten Gründe, das Geburstfest Christi möglichst nahe an den Tag der Mittwinterfeier zu verlegen. „Da die Sonne nach dem 21. Dezember in immer höherem Bogen am Himmel emporsteigt, schien es in altersgrauer Zeit dem Volke, als sei der Sonnengott zu neuem Leben erwacht und habe den Sieg über die Finsternis davongetragen. Das Geburtsfest der unbesiegten Sonne wurde nun von der Kirche in das Geburtsfest Christi, des „Lichtes zur Erleuchtung der Völker“, umgewandelt und auf den 25. Dezember verlegt.“

In christlicher Zeit erhielten auch die Lostage unmerklich eine Verschiebung in die Spanne zwischen Weihnachten bis Dreikönigen. Zwar gelang es nur schwer, die ihnen anhängenden heidnischen Anschauungen zu verdrängen. Diese zwölf Tage, genannt „Die Zwölften“, galten noch lange als heilige Ruhetage, an denen keine lärmende und beschwerliche Arbeit verrichtet werden durfte. Noch im Jahre 1587 waren z.B. zu Köln „die gerichter geschlossen und sunst vacantz und stil“. Die Kirche suchte die heidnische Bedeutung dieser Tage dadurch abzuschwächen, dass sie ihrerseits an einzelnen von ihnen besondere Kulthandlungen vornahm, so z.B. am zweiten Weihnachtstage, am Stephanstage und am darauffolgenden Johannistage (27. Dezember). An letzterem erfolgte eine Weihe des Weines. Aber bis auf den heutigen Tag leben die alten heidnischen Lostage noch als stille Tage und in manchen Volksgebräuchen fort. Im Idarwald z.B. gilt heute noch das Wasser, das am 2. Weihnachtstage vor Sonnenaufgang aus einer bestimmten Quelle geschöpft wird, als heilkräftig und segenspendend. Auch dem Vieh gab man früher Wasser zu trinken, das an diesem Tage unter bestimmten Vorschriften geschöpft worden war.

Wir Deutsche können uns heutzutage unser christliches Weihnachtsfest nicht ohne den Weihnachtsbaum vorstellen. Und doch ist sein Aufkommen, welches die verschiedensten heidnisch-germanischen Bräuche in sich vereinigt, noch gar nicht so sehr alt. Noch im Mittelalter war der Weihnachtsbaum in Deutschland unbekannt, während die Weihnachtskrippe überall gebräuchlich war. Im Elsass kannte man bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts Bäume und Maien zu Weihnachten. Aus Straßburg ist uns erst aus dem Jahre 1605 ein richtiger Weihnachtsbaum bekannt, der mit Äpfeln, Zuckerwerk, Oblaten und buntem Papier verziert war. In Essen sah man den ersten Weihnachtsbaum um das Jahr 1800. In den Rheinlanden bürgerte er sich erst mit Beginn der preußischen Zeit ein. In den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts galt er in der Gegend von Koblenz als etwas ganz Neues. Marie Helene von Kügelgen, die Mutter des Malers Wilhelm von Kügelgen, schreibt Ende Dezember 1804 aus Rhens bei Koblenz: „Die Weihnachtstage habe ich froh verlebt. Ich machte einen hohen Fichtenbaum mit tausend kleinen Lichterchen, der voll Reinetten und anderer schönen Sachen hing. Ein solcher Baum ist hier eine neue Erscheinung. Alt und jung lief zusammen.“ Noch heute hat sich in manchen rein ländlichen Gegenden am Niederrhein der Weihnachtsbaum nicht eingebürgert.

Als Vorläufer des Weihnachtsbaumes ist der heidnische Brauch anzusehen, zur Zeit der winterlichen Sonnenwende zauberkräftige Zweige heiliger Holzarten in das Haus zu bringen. Je nach den Landschaften war die Art dieser Zweige verschieden. In der Gegend von Salzburg bevorzugte man Eibe und Wacholder, in England nimmt man heute noch einen Mistelzweig in die Stube. In unserer Gegend ist es heut auch vielfach noch üblich, am Barbaratage einen Zweig vom Kirschbaum in ein Glas Wasser zu stellen und diesen in der warmen Stube treiben zu lassen, so dass er zu Weihnachten Blüten zeigt.

Noch jünger als der Weihnachtsbaum ist die Sitte, am Weihnachtsfeste Geschenke auszuteilen. Diese Geschenke lassen sich einerseits auf die bei den altheidnischen Umzügen zur Verteilung gelangenden Gaben zurückführen, wie man sie andererseits aber auch mit den am römischen Neujahrstag üblichen Spenden in Verbindung bringen kann. Bis in die neueste Zeit hinein wurden auch im Rheinland an Erwachsene Geschenke nicht zu Weihnachten, sondern am Neujahrstage ausgeteilt. Der Reiche gab dem Armen, der Vorgesetzte dem Untergebenen. Daneben hatte sich für die Kinder das Nikolausfest als Tag der Geschenke entwickelt. Noch um 1820 bevorzugte man in Köln diesen Tage zum gegenseitigen Beschenken sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Erst einige Jahre später tritt zum ersten Male das Weihnachtsfest als Geschenktag auf. Dann bürgerte sich diese Sitte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zuerst bei den bürgerlichen Kreisen ein, um sich von diesen langsam auf die ländliche Bevölkerung auszudehnen.

Unser heute so beliebtes Weihnachtsgebäck, der Spekulatius, verdankt seinen Namen der Verdrängung einer heidnischen Gepflogenheit. Man backte in frühchristlicher Zeit noch vielfach Tierfiguren, die mit dem heidnischen Religionskulte in irgendwelchen Beziehungen standen. Beliebt war als Backfigur ein Dämon, der bei den Umzügen eine große Rolle spielte. Die christliche Anschauung setzte an die Stelle dieses Dämons den hl . Nikolaus als Bischofsfigur, von der dieses Backwerk schließlich seinen Namen erhielt. Sein Name kommt von speculator sive episcopus, niederländisch Speculaas genannt.

Weihnachtlicher Hauch liegt auch noch über dem Silvester- und Neujahrestage, ja man kann sagen, dass die Weihnachtszeit erst am Dreikönigstage ihr Ende erreicht. Jahresschluss und Jahresanfang sind ebenfalls bedeutsame Zeitabschnitte, die von jeher auf das Gemüt des Volkes von nachhaltigem Eindruck gewesen sind. Die Silvesternacht besitzt geheimnisvolle Kräfte. In ihr kann man die Zukunft erforschen. Das heute vielerorts noch übliche Bleigießen ist ein geeignetes Mittel dafür. Auch ist diejenige Person, die einem am Neujahresmorgen zuerst begegnet, von großer Bedeutung für jegliches Gelingen im ganzen Jahr. Man verbringt die Silvesternacht entweder daheim im Familienkreise mit allerhand Kurzweil, oder man sitzt in geselliger Runde im Gasthause bei Punsch und Grog. Auf dem Lande spielen die älteren Leute Skat, während die jungen Burschen singen und lärmen. In manchen Gegenden versammelt man sich beim „Brocksel“, einem braunen Getränk aus Branntwein und Wasser mit Lebkuchenstückchen. Punkt 12 Uhr aber beeilt sich ein jeder, das „Neue Jahr“ auf seine Art zu begrüßen: man schießt, schreit, und lärmt, und jeder will der erste sein, der ein kräftiges „Prosit Neujahr“ in die Gegend schmettert. In manchen Orten veranstalten die Junggesellen einen Umzug durch den Ort, wobei sie den heiratsfähigen Mädchen ein Ständchen bringen. Am Neujahrsmorgen werden Verwandte und Bekannte besucht, denen man seine Glückwünsche fürs neue Jahr darbringt. Die Kinder erhalten ein „Neujährchen“, zumeist eine Bretzel, einen Spitzweck oder sonstiges Naschwerk. Ein bekannter Neujahrsspruch in unserer Gegend lautet:

 

Prosit Neujohr! En Bretzel wie en Scheuerntor,
en Kooche wie en Ofeplatt, dann wiere mer all mettenanner satt

Wenn in den Zeiten vor dem (ersten) Weltkrieg zu Koblenz das Fest der Jahreswende herannahte und alt und jung sich am Abend des letzten Jahrestages entweder daheim um eine duftende Punschbowle versammelte oder einen Silvesterbummel durch die Wirtschaftslokale der Stadt unternahm, dann hieß es zumeist nach kurzer Zeit immer: „Wo gimmer dann noher hin?“ oder „Wo treffe mer ons dies Naacht?“ Auf eine derartige Frage konnte es nur eine Antwort geben, und die lautete ganz selbstverständlich: „Om 12 Uhr offm Plohn!“ Nahte dann so allmählich die mitternächtliche Stunde heran, dann sah man, wie aus allen Richtungen der Stadt fröhlich scherzende und singende Gruppen, Männlein und Weiblein, in übermütiger Silvesterstimmung ihre Schritte nach dem Plan lenkten, jenem großen Platz inmitten der Altstadt, der von ehrwürdigen Gebäuden stadtgeschichtlicher Bedeutung eingerahmt und von den beiden Zwiebeltürmen der Liebfrauen-Kirche überragt wird. Je mehr sich der Zeiger der Jahreswende näherte, desto größer wurde die lärmende Menschenmenge, und desto übermütiger die jungen Burschen, die durch das Abbrennen von knallenden Feuerwerkskörpern, sogenannten „Krutschen“, allerlei harmlosen Unfug trieben und manches Jungfräulein in schnell vergehenden Schreck versetzten. Scherzen und Lachen überall! Ja, hier und da sah man auch schon den einen oder anderen, der schnell vor Jahresschluss noch einmal etwas „schwer geladen“ hatte. Plötzlich Totenstille! Oben auf dem Turm der Oberpfarr schlägt die Kirchenuhr: 1-2-3-4-5-6! Langsam und bedächtig schallt es durch die Nacht. Aller Augen sind in die Höhe gerichtet, dorthin, wo am Kirchturm das kleine Fensterchen des Turmwächters in matter Helle leuchtet: 7-8-9-10-11-12! Da tönt einer lauten Stimme metallischer Klang aus der Höhe herab: „Prosit Neujahr!“ Es ist der Turmwächter, der nach alter Sitte diesen Gruß durch ein langes Sprachrohr seinen Mitbürgern zuruft. Dann aber dröhnt es unter weiter aus tausend Kehlen: „Prosit Neujohr! Prosit Neujohr!“ Man schüttelt sich die Hände, man umarmt sich, man jauchzt und pfeift, und die knallenden „Krutschen“ verursachen einen Höllenlärm. Hat es genügend Schnee gegeben, dann fliegen die weißen Ballen hin und her und mancher wird hier zum erstenmal für das neue Jahr gründlich „gewaschen“. Ein Stück urwüchsigen Volkstums ist es, das sich unter dem Zauber der Jahreswende hier offenbart. Aber allmählich legt sich der Lärm. Man hat Durst und kalte Füße bekommen und verteilt sich auf die Wirtschaften, wo den durchgefrorenen Stammgästen Punsch oder Grog mit Berliner Pfannkuchen kostenlos verabreicht wird. Musik, Gesang und Tanz überall! Und nicht wenige sind es, die durchhalten bis zum kommenden Morgen, um sich alsdann der militärischen „Reveille“ anzuschließen, die mit klingendem Spiel durch die Straßen zieht:
„Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht,
pflücket die Rose, es sie verblüht!“

Die Zeiten haben sich geändert! Und mit ihnen ist so mancher alte Brauch dahingeschwunden. Am meisten hat wohl der Stadtbewohner von seinem alten Volkstum verloren. Hier schwindet immer mehr das enge Verbundensein mit der Scholle. Man ist zu unstet geworden und lebt vielfach zwar allzu materialistisch nach dem Grundsatze: ubi bene, ibi patria (wo es mir gut geht, da ist meine Heimat). Auf dem Lande dagegen ist man sesshafter und naturwüchsiger geblieben. Hier erbt sich altes Volksgut von Generation zu Generation fort. Und wenn es auch im Laufe von Menschenaltern Wandlungen über sich ergehen lassen muss, so bleibt doch das Ursprüngliche, das Heimatlich-Typische an ihm hängen. Wer Verständnis hat für unsere alten deutschen Volksbräuche, der weiß, dass in ihnen eine unverwüstliche Lebenskraft enthalten ist. Und so lange dieses alte Volkstum nicht untergeht, so lange darf das deutsche Volk getrost den Aufgaben eines jeden neuen Jahres entgegensehen.